M. Leuenberger u.a. (Hrsg.): Ehemalige Verdingkinder erzählen

Cover
Titel
Versorgt und vergessen. Ehemalige Verdingkinder erzählen


Herausgeber
Leuenberger, Marco; Seglias, Loretta
Erschienen
Zürich 2008: Rotpunktverlag
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 24,00
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von
Bernd Hüttner, Gesprächskreis Geschichte der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Bremen

Ähnlich wie in Deutschland über die Heimkinder1, wird seit 2003 in der Schweiz über das Schicksal der sogenannten Verdingkinder berichtet und diskutiert.2 Im Rahmen eines Nationalfondsprojektes unter der Leitung von Ueli Mäder und Heiko Haumann wurden von April 2005 bis März 2008 mündliche Lebensberichte von über 270 ehemaligen Verding- und Heimkindern gesammelt, von denen nun 40 in Buchform vorliegen. Damit wird ein bislang verdrängtes Stück Schweizer Geschichte in die Öffentlichkeit gebracht.

Die Verdingkinder wuchsen nicht bei ihren Eltern auf, sondern in ihrer großen Mehrheit auf Bauernhöfen, wo sie – obwohl erst im schulpflichtigen Alter - für Kost und Logis schwer arbeiten mussten. Sie wurden von der staatlichen Sozialbürokratie an Pflegeeltern in der Landwirtschaft vermittelt, also dorthin wo Arbeitskräfte gebraucht und Nahrung zumindest theoretisch vorhanden war. Sie wurden als Arbeitskräfte ausgenutzt, Gewalt einschließlich sexueller Gewalt ausgesetzt, vom Dorf oftmals isoliert und innerhalb ihrer Pflegefamilie auf der untersten Sprosse der Hierarchie platziert. Die Verdingkinder lebten in sozialer Isolation auf oftmals abgelegenen Höfen, sie hatten keine Freizeit. Ihre genaue Anzahl ist unbekannt, man schätzt aber, dass es Hunderttausende von Betroffenen gab und die letzten Verdingungen zu Beginn der 1960er-Jahre stattfanden. Dass das jüngste im Buch genannte Kind 1952 geboren wurde, ist ein Indiz für das Fortexistieren dieser vormodernen Verhältnisse bis hinein in die „langen 1960er-Jahre“.

In den acht Kapiteln Armut, Schule und Ausbildung, gesetzliche Entwicklung, Kindswegnahme, Entwurzelung und Isolation, Diskriminierung, Gewalt und Widerstand sind jeweils fünf Berichte zusammengestellt. Die Texte beruhen auf Interviews und wurden von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Projektes redigiert. Zu Beginn jedes Kapitels findet sich ein Hintergrundtext, der zu den nachfolgenden Beiträgen jeweils die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erläutert, und zum Beispiel deutlich macht, dass im Mittelpunkt nicht die Integration dieser Kinder oder auch nur das Kindswohl stand. Der Staat hatte vor allem Interesse an einer billigen Versorgung der Kinder, worin sich eine sozialrassistische Kontinuität im staatlichen Umgang mit den Armen ausdrückte.

In den Interviews berichten die Verdingkinder immer wieder über fehlende Zuwendung durch die Bezugspersonen, über ihre emotionale Zuwendung zu Tieren, die große Bedeutung von Gewalt und Strafen, von Armut und dem Heimweh nach der eigenen Familie. Die Interviews zeigen, wie Menschen in Selbstzeugnissen ihrem Leben trotz allen Widrigkeiten einen Sinn zu geben versuchen, und einige machen deutlich, wie sie bis heute mit den Folgen ihrer Vergangenheit als Verdingkind kämpfen.

Die Nachgeschichte der Verdingkinder ist oftmals problematisch: Sie bekamen als Kinder keine Anerkennung, sie lernten Familienleben nicht in einem positiven Sinn kennen und erlebten ihre Kindheit vor allem als Ohnmacht und Ausgeliefertsein. Die Folgen ziehen sich für sie bis in die Gegenwart: Bis heute leiden viele unter Scham und Minderwertigkeitsgefühlen.

Das Buch gibt der Darstellung der subjektiven Sichtweise der befragten Verdingkinder breiten Raum. Dies ist angebracht und gibt dem Band seine Stärke und seine Wirkmacht. Er ist eine eindringliche bis anrührende Schilderung des Lebens und Überlebens dieser Kinder. Wenn man bedenkt, dass sich vermutlich vor allem Betroffene zu Interviews bereit erklären, die nicht zu starke Traumatisierungen erlitten haben, oder die die Kraft hatten, diese aktiv zu bewältigen, kann man sich vorstellen, dass es noch Fälle geben muss, die weit schrecklicher waren, als die dokumentierten - und welcher Anstrengungen es bedarf, mit einer solchen Biographie zu (über-) leben. Das Buch ist nicht zuletzt ein beeindruckendes Beispiel dafür, was Agrargeschichte auch sein könnte.

Anmerkungen:
1 Auslöser in Deutschland war das Buch Peter Wensierski, Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik, München 2006.
2 Dazu siehe auch die Internetseiten <http://www.verdingkinder.ch/index.html> (19.03.2009) mit umfangreicher weiterer Literatur, und die Website <http://www.verdingkinderreden.ch> (19.03.2009) zur Ausstellung „Verdingkinder reden“.

Redaktion
Veröffentlicht am
20.03.2009
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